Vom Auftauchen und Verschwinden

Melodie und Klang – die Auflösung der Formen wird zur gesellschaftlichen Notwendigkeit.

Die Melodie ist in neuem Gewand neben die Formelemente getreten, die die Entwicklung der klassischen Musik ausmachen, Sonatenhauptsatzform und Thema. Während diese das Prinzip der abstrakten Entwicklung eines Gedankens in die Musik einbringen und sich so der Philosophie der Aufklärung verwandt zeigen, behält die Melodie das Moment des Konkreten bei, als psychologische und realistische Illustration. Auch als kompositorische Idee wird die Melodie nun verwendet und das wird in der Musikgeschichte den Unterschied zwischen Klassik und Romantik definieren. Dabei ist es aber interessant, dass der Begriff Klassik von den KomponistInnen nicht verwendet wurde, der Begriff Romantik hingegen schon (von Robert Schumann etwa in seinen kritischen und theoretischen Schriften), der sich aber auch durchaus auf das bezieht, das wir heute Klassik nennen, und vor allem am psychologischen Begriff des Genies (also an einem überhöhten Beethoven) entwickelt wurde.

Die beiden Zwillinge Klassik und Romantik, Thema und Melodie, werden durch die Funktionsharmonik zusammengehalten, die 1890 von Hugo Riemann (1849-1919) in ihre theoretische Form gebracht wurde, wenn sie auch schon seit der Barockzeit angewandt wurde. Diese Art der Harmonik mit Dominante, Subdominante und Tonika ist für die Hierarchie der Noten in einer Tonleiter verantwortlich und dafür, dass am Ende einer musikalischen Entwicklung die Ausgangstonart, der Ausgangston oder Grundton wieder zu hören ist. Verkürzt lässt sich die Harmonik mit dem Ausspruch von Sid Vicious oder Johnny Rotten (oder wer es war, ich weiß es nicht mehr) so zusammenfassen: „Kauf dir eine Gitarre, lerne die Griffe für E, A und H, gründe eine Band.“

Zum Zeitpunkt aber, als diese Harmonik zum Bestandteil der Musiktheorie gemacht worden war, hatte schon eine Entwicklung eingesetzt, die über das Spiel der Dur- und Molltonarten und deren Abfolge im Quintenzirkel hinausführte. Die Hierarchie der Töne, die durch die Kodifizierung in Harmonie- und Kompositionslehre festgeschrieben schien, löste sich in der Praxis auf. Neue Akkorde wurden gehört, die sich der funktionsharmonischen Beschreibung entzogen wie Wagners Tristanakkord, das Schema der Tonalität von Dur und Moll und der Tonarten mit fünf Ganzton- und zwei Halbtonschritten von einem Grundton aus verschwand in chromatischen Abfolgen von Halbtonschritten.

Die impressionistischen französischen Komponisten übernahmen diesen Gedanken ebenso wie die Wiener Schule um Arnold Schönberg, die ihn radikalisierte, indem sie den Grundton ganz aufgab. Aus den Impressionisten entwickelte sich unter dem Einfluss Eric Saties und der Jazzmusik eine Musik, die in den 1920ern wieder zu einer Unterhaltungsmusik, wenn auch einer sehr elaborierten, führen sollte. Sie orientierte sich also am Volk. Das war allerdings nicht mehr das Volk der Romantik und der Nation, sondern das urbane Publikum der varietés, Tanzhallen und cabarets. Die Wiener Schule führte hingegen nach dem unrühmlichen – auch musikalisch unrühmlichen – Zwischenspiel des Nationalsozialismus von der Zwölftonmusik zur seriellen Musik der Darmstädter Ferienkurse, in der die künstlerische Avantgarde ihren Hauptbezugspunkt sah (und sich der politischen Avantgarde oft annäherte). Und wieder finden wir zwei Prinzipien einander gegenüberstehen so wie Klassik und Romantik – einmal orientiert an der abstrakten wissenschaftlichen Entwicklung, einmal orientiert an einer (wohl ebenso abstrakten) Vorstellung des Volks. Im 20. Jahrhundert wird dieser Antagonismus stilbildend, und oft sucht er seine Auflösung in so scheinbar gegensätzlichen Begriffen wie Pop und Avantgarde.

Mit der Auflösung der Tonalität ging auch die Auflösung der Orchester einher. Das heißt nicht, dass es keine großen Symphonieorchester mehr geben sollte, aber die neu entstandene Musik verlangte nach neuen Klangkörpern. Waren erst einmal hierarchische Strukturen in der Musik durchbrochen und die Ordnungen aufgelöst, mussten auch die kompositorischen Ideen andere Formen annehmen. Thema und Melodie waren nicht mehr Ausgangspunkt eines Musikstücks, der Klang wurde nun zum grundlegenden Einfall, der die Melodie verdrängte, die ihrerseits ihre Grundlage der Harmonik verloren hatte.

Der Klang, der einem zeitgenössischen Musikstück zu Grunde liegt, ist ähnlich dem Thema eine kurze, nahezu inhaltslose Aussage, entlang der sich nun das musikalische Geschehen entfaltet. Ist aber erst der Klang die vorherrschende musikalische Idee, wird das Orchester obsolet. Die Stücke werden nun für Ensembles komponiert, die je nach Klang sich verschieden zusammensetzen – ein Abbild der subjektiven Unternehmungen der bürgerlichen Subjekte, das uns die Musik anbietet. Es steht im Mittelpunkt dieses Diskurses nicht die geordnete Gemeinschaft, sondern das eigenverantwortliche Individuum. Nicht die Masse des Orchesters beschreibt die gesellschaftliche Ordnung – die Riesenorchester, wie sie etwa von Gustav Mahler bewegt wurden, sind wohl ein Abbild des Optimismus und des Fortschrittsglaubens der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert –, sondern das Ensemble, das einen Klangteppich ausbreitet; Ensembles wie das Klangforum Wien oder das Ensemble Modern verkörpern nun die Erfordernisse von Flexibilität, Beweglichkeit, angemessenem Reagieren, Schlankheit und Rationalisierung.